Morgenchor vom Turm der Posaunen

Muschibar-Nameh ist der Name einer sehr alten Geschichte. Wollt ihr sie hören, so müsst ihr bedenken, dass der Mann in dieser Geschichte mit den Wesen, Dingen und Eigenschaften nicht in der Alltagssprache spricht. Würdet ihr denken, dies sei in unserer Alltagssprache erzählt, so wäre es Lüge. Aber der Mann spricht die Märchensprache, und darin ist alles wahr.

Es gibt viele Menschen, die sind mit sich und der Welt unzufrieden. Sie meinen, dass es ihnen nicht besser geht als einem Hund. Sie haben weder Glauben noch Zweifel, Sie empfinden weder Freude noch wirklichen Schmerz. Alle anderen Menschen sind ihnen zuwider, weil sie finden, dass sie sich doch nur mit Dummheiten und Halbheiten abgeben. Solch ein Mann sprach nun eines Tages zu sich: „Was soll das alles? An wem liegt es? Ich sehe darin keinen Sinn. Ich will gehen und fragen und Änderung schaffen.“ Der Mann ging also los. Aber da gab es tausend Wege. Welchen sollte er gehen?

Er blieb stehen und sprach: "Die Erde werde ich nach dem Leben fragen. Sie hat so viele Schätze und Geheimnisse in sich.“ Aber die Erde sagte: "Ich bin ebenso traurig wie du und außerdem auf die Menschen angewiesen. Was tun sie nicht alles mit mir! Und wie sollte ich etwas vom Leben wissen, da ich doch die Toten in mir trage?“

„Ich werde das weite Meer fragen“, sagte der Mann. – "Ich kann deinen Wissensdurst nicht stillen“, antwortete das Meer. "Ich bin selber durstig. Immer sehne ich mich nach dem reinen Wasser der Flüsse.“

"Der Wind muss es wissen“, dachte der Mann. Aber der Wind sagte: "Ich habe keine Macht und kein Ziel. Ich wehe mal hier und mal da und darf nirgends verweilen.“

"Dann weiß es vielleicht das gefährliche Feuer“, hoffte der Mann. Aber das Feuer streute sich Asche aufs Haupt, wie es bei traurigen Leuten der Brauch ist, und sagte: "Wie soll ich dir antworten? Ich bin ebenso traurig wie du. Ich richte oft sinnlose Verwüstungen an und sterbe, wenn ich nichts zu brennen habe.“

Nun fragte der Mann Sonne, Mond und Sterne, aber alle sagten, sie seien nur kleine unwissende Teile. Und der Himmel fügte hinzu: "Ich trage selbst jede Nacht schwarze Trauerkleider und werde am Morgen schamrot über alle Verbrechen dieser Erde. Die Sterne sind nur glühende Kohlen auf meinem Haupt, und das Blau meines Gewölbes ist nur die Außenseite einer Tür. Die Vorbestimmung fasst mich am Ohr und wirbelt mich durch den Tageslauf, ebenso wie dich."

Da wandte sich der Mann wieder der Erde zu und fragte die Steine, Pflanzen und Tiere, ob sie ihm Sinn und Ziel des Lebens sagen könnten. Aber er traf auf Erstaunen. "Bist du es nicht, der für uns verantwortlich ist, du, das einzige Wesen mit Verstand?“

"So muss ich wohl den Verstand fragen“, sagte sich der Mann. Aber wie erging es ihm da! "Du hast wohl keinen Verstand, dass du den Verstand nach so etwas fragst“, sagte der. "Die Gedanken des Verstandes sind nur dem Ungläubigen zu Eigen. Der Gläubige denkt mit den Gedanken des Herzens.“

So fragte der Mann schließlich auch das Herz, aber es sagte ihm sanft und traurig, dass es nur ein Diener und Abglanz der Sonne der Seele sei.

Vollkommen gebrochen kehrte der Mann heim und setzte sich vor sein Haus. Da hörte er zum ersten Mal das Meer der Weltenseele rauschen. Ungefragt sprach es: "Du hast vergeblich die ganze Welt durchforscht, bis du an meine Ufer gelangt bist. Du bist ein Teil von mir. Tauche in dir selbst unter, und du wirst finden, was du suchst.“ Da warf der Wanderer sich in das Meer der Seele.

Als der Muezzin den Morgenchor vom Turm der Posaunen erschallen ließ, da konnte er an allen Dingen und Wesen Wert und Schönheit erkennen, denn er stand sich selbst nicht mehr im Wege. So begann der helle, neue Morgen seines Lebens.

["Der Rosengarten, Orientalische Märchen", erzählt von L.  Thylmann, Hrsg. Gertrude u. Thomas Sartory]

 

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