Ein wahres Märchen

Es lebte einmal, vor langer, langer Zeit, ein großer, böser Drache. Er hatte die schöne Prinzessin geraubt und das ganze Königreich war deswegen in tiefster Trauer. Niemand wagte sich jedoch in die Nähe des bösen Drachen, denn er spuckte Feuer und giftige Dämpfe. Einige mutige Ritter und Prinzen hatten schon versucht, dieses Untier zu töten, gefangen zu nehmen oder sein Feuer zu löschen. Aber alle Mühe war umsonst. Kein Speer, kein Pfeil und keine Kanonenkugel konnten seinem Schuppenleib etwas anhaben. Hunderte von stahlharten Schuppen schützten seinen Körper. Die Menschen in dem Königreich trauerten um ihre Prinzessin. Kein Fest durfte mehr gefeiert werden und das Lachen wurde strengstens verboten. Alle beschimpften die Kammerzofe und Kinderfrau, die auf die Prinzessin hätte Acht geben sollen. Zur Strafe hatten sie diese Zofe in den tiefsten Kerker gesteckt. Nie wurde sie nach dem Hergang des Raubes gefragt, niemand wollte mehr mit ihr sprechen.

Ein fremder Prinz kam ins Land und fragte nach der Ursache der allgemeinen Trauer. Um die Strafe der Zofe noch zu verstärken, musste sie ihm die ganze Geschichte erzählen. Der Prinz tröstete die Frau und sprach ihr Mut zu. Er verfluchte sie nicht wie die anderen. Als Dank für sein Mitgefühl und sein Vertrauen erzählte sie ihm mehr als den anderen. Sie erzählte ihm von den heimlichen Gedanken und Träumen der Prinzessin. Immer wieder hatte die Prinzessin von dem Drachen gesprochen, immer wieder von ihm geträumt und Angst vor ihm gehabt. Immer wieder war der Alptraum des Geraubtwerdens da. Aber auch immer die Neugier und der Wunsch, diesen Drachen einmal zu sehen! Die Kinderfrau hatte alles versucht, das Mädchen von diesen schrecklichen Träumen und Gedanken wegzubringen. Immer wieder hatte die Zofe das Kind vor seiner Neugier und seinen gefährlichen Wünschen gewarnt. Der Wille und der heimliche Wunsch des Mädchens waren aber stärker.

Der Prinz saß am Waldrand und wusste nicht weiter. Er hatte den innersten Wunsch, die Prinzessin zu erlösen, aber wie? Plötzlich hörte er eine leise Stimme. Erstaunt schaute er sich um, aber niemand war zu sehen. Ach was, dachte sich der Prinz, deine Stimme ist so lieb, was muss ich dich da sehen, es genügt ja, wenn ich dich hören kann! Bitte, hilf mir weiter, bitte sprich zu mir!

Und wieder hörte er diese leise Stimme: "All die stahlharten Schuppen sind nichts anderes als die Gedanken und Wünsche der Prinzessin! Gehe nachts zu der Höhle des Drachen und verstecke dich sorgfältig neben dem Eingang. Richte nun deine Gedanken auf die Prinzessin. Denke an ihre Schönheit und an ihren Liebreiz, liebe sie aus ganzem Herzen, auch wenn du sie noch nie gesehen hast. Sie wird als erste im Morgengrauen aus der Höhle kommen und deine ehrliche bedingungslose Liebe wird sie erlösen! Sei nicht wankelmütig! Ungehindert was du siehst, liebe sie!"

Der Prinz verbrachte eine sehr unangenehme, kalte Nacht in einem stacheligen Busch. In einem Dornenbusch, so dachte er sich, erwartet mich der Drache sicher nicht!

Die ganze Nacht dachte er an die liebliche Prinzessin. Sein Herz glühte aus Liebe zu ihr. Er konnte kaum den Morgen erwarten. All sein Sehnen und Lieben ließ ihn das Unangenehme dieser Nacht vergessen.

Noch einmal ließ er in Gedanken all die Worte der leisen Stimme an sich vorbeiziehen. Kein Wort hat er vergessen... Als erstes wird die Prinzessin aus der Drachenhöhle kommen! Als erstes wird die Prinzessin aus der Höhle kommen...! Als erstes wird...!

Und dann? Das hat ihm die feine Stimme nicht gesagt. Der Prinz kümmert sich jedoch wenig um das und dann. Sein ganzes Herz ist erfüllt mit Liebe.

Das erste Dämmern am Horizont! In seinem Wachsein hat es der Prinz sehr schnell erkannt. Er verdoppelt seine Aufmerksamkeit!

Als erstes wird die Prinzessin aus der Höhle kommen!

Wellen der Liebe! Im ganzen Wald ist Licht!...

Schnaufend und prustend wälzte sich der Drache aus der Höhle!!!...

Das Herz des Prinzen ist jedoch so von Liebe erfüllt, dass er im ersten Moment gar nicht gewahr wird, dass an Stelle der Prinzessin der Drache als erstes aus der Höhle kommt!

Ja und dann?

Der Prinz in seiner Schwingung aus Licht und Liebe bemerkte seinen "Irrtum" viel zu spät. Der Drache wurde von dem Licht der Liebe getroffen. Seine stahlharten Schuppen lösen sich von seinem Körper und verwandeln sich in wunderschöne Blumen und Schmetterlinge. Sein Leib schrumpft, dampft und verbrennt von innen heraus. Aus der Asche steigt eine wunderschöne, liebreizende Jungfrau.

Der Prinz eilt auf sie zu und schließt sie in seine Arme. Nie hat es einen Drachen gegeben, der die Prinzessin geraubt hat. Die harten Gedanken, die vielen sinnlosen unerfüllten Wünsche haben das liebreizende Mädchen immer mehr und mehr zum Drachen mit stahlharten Schuppen werden lassen.

Der Prinz heiratet die Prinzessin. Sie vereinen sich. Sie werden zu einer Einheit. Die Liebe des Prinzen hatte die Kraft, den harten Panzer, die stahlharten Gedankenschuppen aufzulösen.

Der Prinz, die Symbolik des Geistigen und die Prinzessin, die Materie. Das Geistige hat den Gedankenpanzer der Materie gelöst. Durch die Liebe konnte sich die Materie von all der Härte, den Vorurteilen und ihrer Drachenhaftigkeit befreien und in Schönheit und Frieden sich mit dem Geist verbinden.

Und du? Ist dein Märchenprinz zur Befreiung deiner Märchenprinzessin auch schon erschienen?

Warte nicht vergeblich auf ihn. Solange du wartest, wird er nie bei dir ankommen. Erfühle ihn, erahne ihn, sei sicher und wisse, dass er schon immer in dir ist und nur auf seinen großen Auftritt wartet. Gib ihm eine Chance, erlaube ihm, die Prinzessin Materie zu lieben, ganz gleich in welcher Gestalt sie auf ihn zukommt.

 

[aus: "Schwarz und Weiß sind keine Farben" von Rosemarie Klaka-Lampert]

 

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